ITUG Circular 2002

Tagungsbericht

Edieren in der Elektronischen Ära
aus: Circular der BBAW. Heft - 26/6. Jg. Dezember 2002, S. 26-28.


Vom 2. bis 5. Oktober 2002 fand in der BBAW die Tagung "Edieren in der elektronischen Ära" statt, bei der über sechzig Wissenschaftler die Möglichkeiten und Perspektiven des Einsatzes elektronischer Datenverarbeitung und neuer Medien in der geisteswissenschaftlichen Editionsarbeit besprachen. Als Veranstalter fungierten zum einen das Studiengebiet Editionswissenschaft (Freie Universität Berlin), das Institut für Judaistik (FU) und die Arbeitsstelle "Deutsche Texte des Mittelalters" (BBAW), so daß der Einbezug vielfältiger philologischer Zugänge gewährleistet war, zum anderen die International Tustep User Group auf der praktischen Seite. TUSTEP ist ein speziell für wissenschaftliche Zwecke zugeschnittenes, von vielen Editoren verwendetes "TUebinger System von TExtverarbeitungsProgrammen". In der Präsentation zahlreicher Editionsprojekte wurden die Möglichkeiten technischer Umsetzbarkeit diskutiert und die erweiterten Arbeits- und Untersuchungsmethoden vorgestellt, welche die EDV als Werkzeug und Medium bietet. Organisatoren vor Ort waren Gottfried Reeg (FU) und Martin J. Schubert (BBAW).

Eröffnet wurde die Tagung von Frau Beatrice Fromm, Generalsekretärin der BBAW, und Frau Prof. Dr. Gisela Klann-Delius, Vizepräsidentin der FU. Der Eröffnungsvortrag von Marc-Aeilko Aris (Albertus Magnus-Institut, Bonn) zum Thema ""Textus ex machina" - Konstituierung und Kommentierung mittelalterlicher Texte im technischen Zeitalter" schlug eine Brücke von der Seitengestaltung mittelalterlicher Kommentarhandschriften zum apparateschwangeren Aufbau kritischer Editionen, wobei die Metapher des "Apparats" als Text, Maschine und Textmaschine in schillernder Weise für das nahezu automatische Wuchern der Texte angewandt wurde.

Ein Teil der Beiträge umfaßte Projektvorstellungen, wobei die spezifischen Probleme der einzelnen Philologien und ihre Lösbarkeit durch EDV besprochen wurden. Friedrich Seck (Tübingen) stellte den just erschienenen Band der Brief-Edition des frühneuzeitlichen Universalgelehrten Wilhelm Schickard vor und demonstrierte die Schwierigkeiten eines durch zahllose Sonderzeichen und -schriften angereicherten Manuskripts. Ähnlich zeigte Claudia Reichel (BBAW) editorische Probleme und technische Lösungen, die vor allem bei Mischtexten in der Marx-Engels-Gesamtausgabe auftreten. Wieland Carls (FU) erläuterte eine Edition von Rechtstexten des 15. Jahrhunderts; Julia Eva Wannenmacher (HU) wies den Nutzen von Textdatenbanken für die editorische Arbeit nach. Hartmut Rudolph (BBAW) und Heinrich Schepers (Münster) stellten anhand der Arbeit in der Leibniz-Edition Methoden der Datensicherung vor, die bei der Bearbeitung durch mehrere Bearbeiter nötig sind. Die Übertragung von Kollationsheften ins elektronische Medium demonstrierte C. W. Brunschön (BBAW) in seinem Beitrag zur Edition der antiken Medizinschriften. Bill Rebiger (FU) benannte in seinem Vortrag über Transkription und Textkonstitution am Beispiel der Gegenstände der Judaistik einen Kernpunkt der Diskussionen: daß selbst eine Transkription - als Voraussetzung einer maschinenlesbaren Form - keine eindeutige Umsetzung einer Handschrift bildet und daß also der Interpretationsanteil bereits auf dieser Arbeitsstufe berücksichtigt werden muß. Die Grenzen der Automatisierung behandelte der Beitrag von Arnold Otto (Düsseldorf), welcher anhand einer Edition spätmittelalterlicher Erbauungsgedichte demonstrierte, bis zu welchem Punkt die Herstellung von Apparateinträgen der Datenverarbeitung übertragen werden kann. Wie philologische Materialien in eine Datenbank inkorporiert und im Netz präsentiert werden können, demonstrierte Robert Charlier (BBAW) anhand des Goethe-Wörterbuchs.

Probleme der Erfassung und Verarbeitung behandelte Michael Stolz (Basel) bei der Vorstellung des Basler Parzival-Projekts. Beim computergestützten Kollationieren, hier mit dem Programm Collate, muß dabei unterschieden werden zwischen elektronisch verarbeitbaren (graphematischen, orthographischen) Varianzen und solchen, die bislang nur vom Menschen bearbeitet werden können (dialektale Varianzen usw.). Hier wie in weiteren Beiträgen wurde die Bedeutung präzise definierter Filterregeln angeführt, welche regelmäßige Varianzen beschreiben und damit programmierbar machen. Die auf CD vorgesehene Publikation, die Digitalisate von Handschriften, Transkriptionen und kritische Texte miteinander verlinken soll, findet Entsprechungen in zwei Internet-Projekten: dem von Martin J. Schubert (BBAW) vorgestellten elektronischen Handschriftenzentrum auf Grundlage der in der Reihe "Deutsche Texte des Mittelalters" edierten Texte und dem von Andrea Rapp und Johannes Fournier (Trier) präsentierten Projekt, das den historischen Buchbestand der Trierer Klosterbibliotheken St. Matthias und St. Maximin digital rekonstruieren soll. Gegenüber den bisherigen Netzpräsentationen mittelalterlicher Handschriften und Texte bieten diese Formen den Transkriptionstext und machen so editorische Entscheidungen durchsichtig sowie handschriftengetreue Umschriften durchsuchbar. Der Nutzen einer solchen Bereitstellung wurde unmittelbar deutlich im Beitrag von Harald Völker (HU), der an einem Korpus altfranzösischer Urkunden eine differenzierte Datenerfassung, die selbst grammatische Zusammenhänge markiert, als wichtige Arbeitsgrundlage für die historische Varietätenlinguistik nachwies. Es schlossen sich intensive Diskussion an über Fragen der idealen Datengestalt, also der höchstmöglichen Auszeichnung, und der Pragmatik der Erreichbarkeit innerhalb von Förderungszeiträumen.
Unter den im Rahmen der Tagung gehaltenen jährlich wiederkehrenden ITUG-Treffen war, neben der vor allem auf Fragen der Benutzerorientierung zielenden Fragestunde "Wünsche an Tustep", besonders die Vorstellung neuer TUSTEP-Features durch Wilhelm H. Ott (Tübingen) aufschlußreich. Innerhalb einer Vielzahl spezialisierter Änderungen wurde die neue Möglichkeit vorgestellt, unmittelbar aus dem Programm Webseiten zu generieren. Die Demonstration dieser neuen Möglichkeit durch Matthias Kopp (Tübingen) machte deutlich, daß Tustep, trotz der archaisch anmutenden Benutzeroberfläche, ein zukunftsträchtiges Programm bleibt, das alle derzeit denkbaren Anwendungen des philologischen Nutzers bedient. Zum Rahmenprogramm zählte eine Führung durch das jüdische Berlin; ein Workshop zur Synopse (Gottfried Reeg, Berlin), in dem Möglichkeiten der typographischen Gestaltung und ihrer EDV-Umsetzung besprochen wurden, beschloß die Veranstaltung.

Der Überblick über die Tagungsergebnisse, der sich nicht auf randständige Kuriosa verkürzen sollte (FAZ vom 16. 10. 2002, Nr. 240, Seite 36), läßt durchaus mehrheitsfähige Linien der Diskussion erkennen. Editoren können nahezu alle Schritte von der Texterfassung über die Kollationierung, Apparaterstellung bis zum Satz zumindest partiell an Computersysteme übertragen. Für die elektronische Darbietung stehen mächtige Tools bereit; die projektierten Nutzungsmöglichkeiten ließen, wenn sie verwirklicht würden, wenige Wünsche offen. Vor allem die Option, den Fachkollegen all jenes Material zugänglich zu machen, das eine Buchausgabe nicht tragen kann (Kompletttranskription der edierten Handschriften, komplette Wortformenregister usw.), wurde nachhaltig begrüßt. Dabei wurde immer wieder darauf hingewiesen, daß die Daten in möglichst neutralen Formaten gespeichert werden müssen, um allgemeinen Zugriff und vor allem dauerhafte Bereithaltung zu gewährleisten. Offensichtlich sind Editoren auch fähig, die Vorzüge von dauerhaften Buchausgaben und elektronisch auswertbaren Materialien abzuwägen. Die vielfältigen Anregungen und Erkenntnisse, die sich aus der gemeinsamen Arbeit der Kollegen verschiedener Fächer ergaben, werden an zukünftigen Editionen und Editionsformen abzulesen sein - zunächst an einem Tagungsband, in dem die Beiträge der Tagung zusammengefaßt werden.

Informationen:
Martin J. Schubert, Tel.: 030/20370-282
e-mail: schubert@bbaw.de

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